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Mittwoch, 1. Juni 2011

An Frau Sibylle: Die idiotischen Denker

Heute habe ich eine interessante Kolumne auf SPIEGEL online gelesen:
Wie Denker zu Idioten wurden, verfaßt von der Autorin und Kulturschaffenden Sibylle Berg.
Das Fazit ihres Gedankengangs: Intellektuelle haben keine Bedeutung mehr in diesem Land und dieses Land, diese Gesellschaft keinen Respekt mehr vor ihnen, weil heute nur noch zählt was Euros bringt und alle nur noch die obszönen Neu-und Superreichen als Vorbild haben, dem sie hinterher hecheln. Das wäre früher anders gewesen, so vor etwa 30 Jahren, dann kam der Wandel, verursacht vom Sieg des Kapitalismus über seine Gegenentwürfe.
Mir stellte sich sofort die Frage, was ich von dieser These halten soll. Ich komme zum Schluß: Abstand.

Erst einmal hat Sibylle Berg recht: Wir haben eigentlich kaum noch wirkliche Intellektuelle im Land. Schon gar nicht welche, die davon leben könnten, selbst wenn sie wollten. Es stimmt ja, es ist heute schwieriger vom reinen Denken und schwadronieren zu leben. Selbst das Gammeln auf der Kölner Domplatte ist nach allem was man so vernimmt beschwerlicher geworden als vor 30, 40 Jahren.
Aber das heißt doch nicht, daß man deswegen seinen Intellekt abgeben muß. Der Herr Precht machts doch vor. Und wenn man nen bissel nachdenkt, fallen einem noch welche ein.
Dennoch: Ja, die Intellektuellen sind kein Leitbild mehr, sie bestimmen kaum noch die Richtung der Republik und man hat keinen Respekt mehr vor ihnen. Der Grund dafür ist aber nicht der Kapitalismus; der Sermon "heute zählt nur noch das Geld", den hätte man - vornehmlich von Kulturschaffenden und Autoren, vermute ich - schon 1910 hören können. Seitdem ist viel Wasser den Rhein runtergeflossen, wir hatten zwei Weltkriege, und - ach ja - der Kapitalismus hat gewonnen...

Zurück zum Thema. Es gibt zwei wichtige Gründe, warum die Intellektuellen heute kaum noch was mitzuteilen haben, daß irgendeinen Einfluß hätte. Beide haben schwer mit ihnen selber zu tun und sind in Kombination tödlich.

1. Die Intellektuellen haben sich selbst diskreditiert. Auf unterschiedlichste Weise. Doktortitel, von denen man ja inzwischen weiß, was sie nur wert sein können. Andere Fälle, in denen Wasser gepredigt und Wein getrunken wurde. Plumpe Provokationen, um in der Bild zu landen. Versteinerte Thesen fernab der Lebensrealität der Menschen in Dauerschleife (besonders beliebt z.B. bei Alice Schwarzer). Aber auch: Was sich früher viele Intellektuelle gewünscht hätten, mehr Bildung für alle, ist zumindest insofern war geworden, als wir so viele Gymnasiasten haben wie noch nie und entsprechend viele Studierende (auch wenn immer noch der Ruf nach mehr da ist). Je mehr aber immer höhere Bildungsabschlüsse haben, umso mehr merken auch, daß auch die Denker nur mit Wasser kochen. Man nivelliert das Niveau, indem man die andern zu sich auf den Olymp holt. Wenn Gott dem Menschen gottgleiche Macht gibt, fragt der Mensch irgendwann nach dem Unterschied zwischen ihnen beiden. Im Sinne der allgemeinen Volksbildung ist das nicht schlecht, aber für die Intellektuellen an sich ist das bedrohlich, denn plötzlich müssen sie feststellen, daß sie ihre eigene Existenzberechtigung von damals angreifen.
Übrigens: Mein persönlicher Eindruck ist, wer sich wirklich heute noch als Intellektueller versteht, geht heute gern lieber ins Kabarett. Ein Hagen Rether und ein Jürgen Becker verpacken ihre Weisheit als intelligenten Lacher, und plötzlich nehmen sie alle viel ernster. Keine Ahnung ob das gut ist. Aber immerhin, sie haben ihr Auskommen.

2. Heute kann jeder intellektuell spielen. Denn eines hat sich viel gravierender verändert seit den 80er Jahren als nur das Ende des Kommunismus: Damals gab es kein Internet, heute gibt es Internet. Damals hätten sich sowas wohl viele Intellektuelle gewünscht - fast unbegrenzter Meinungsaustausch, Wissen und Kultur für alle, die darauf zugreifen wollen, überall und jederzeit. Mit der Beteiligung eines jeden!
Nur: Auch dies nivelliert das Niveau - nicht durch den ganzen Schund, den es zugegebenermaßen gibt, sondern durch die Möglichkeit für jeden, der was aufm Kasten hat, sich zu äußern, für alle les-und sichtbar.
Intellektuelle waren früher was besonderes, weil sie ein recht abgeschlossener Kreis waren, dadurch besonders, dadurch auch eine Art Leitbild, denn man konnte nicht mal so eben sein oder sich auch nur so fühlen wie sie. Man mußte studiert haben, Geduld aufbringen im Leben, um da irgendwie hin zukommen (wie mit irgendwie ja allem). Es gab sicher auch viele relativ einfache Arbeiter bei Ford und Siemens, Schüler auf der Hauptschule etc., die theoretisch schlaue Gedanken hatten. Praktisch nahm die Welt sie nicht wahr damit.
Heute gibt es Internet.
Heute kann im Internet jeder den Intellektuellen spielen, ohne Kontrolle seines Schulabschlußes, ohne große Mühen. Einfach die Idee, den Gedanken, die schlaue Thesis halbwegs vernünftig formulieren und in die Welt hinaustippern (so wie ich gerade, Asche auf mein Haupt). Damit wird für die alteingesessene Spezies der Intellektuellen die Konkurrenz unendlich groß. Die Wahrscheinlichkeit, daß jemand sich an einem Freizeit-Intellektuellen aus dem Forum oder dem Blog seines Vertrauens orientiert, ist statistisch größer als das er sich an Herrn Precht oder Frau Berg orientiert.
Sorry, ist so.
Eine allgemeine breite gesellschaftliche Wirkung kann aber damit nun niemand mehr erzielen, denn kaum noch jemand sticht wirklich heraus aus dem Heer der Freizeitintellektuellen. Der Austausch aller Miteinander hat die Intellektuellen alter Schule abgeschafft. Und zwar viel wirksamer als es das Kapital gekonnt hätte.
Für einen Herrn Precht ist nur noch kurzfristige mediale Aufmerksamkeit das höchste der Gefühle - ein neues Buch ist raus, dazu tingel ich mal zwei Monate lang von Talkshow zu Talkshow, schreib beim SPIEGEL, ja, das merkt die Gesellschaft noch - aber es ist ein Aufblitzen. Sein Buch davor, was war das nochmal? Und das davor? Ähm...ja...fragen sie Wiki oder seinen Fanclub. Die wissen das!

So wie der Fanclub der Taverne wahrscheinlich auch noch meinen vorvorletzten Eintrag grob auf die Reihe kriegt. Wiki noch nicht. Daran arbeite ich noch *hust*

Symbolisch für den zweiten Punkt ist wahrscheinlich auch, daß ich, ein Freizeitintellektueller mit einer virtuellen Taverne, in der ein pinker fünfäugiger Alien (der sich derzeit viel zu viel auf Facebook rumtreibt, weshalb ich jetzt immer abwaschen muß) arbeitet, auf Frau Bergs Ansichten antworte, wahrscheinlich schneller als die meisten verbliebenen Berufsintellektuellen.

Was daraus folgt für die Zukunft des Intellekts? Nun ja, es wird sie nur im Internet geben, in welcher Form auch immer. Vielleicht werden die wahren Intellektuellen der Zukunft ja keine Einzelpersonen mehr sein, sondern kollektive Communities, die bestimmte Ansichten ausarbeiten und dann propagieren.
Das wäre eigentlich mal ein Thema für den Herrn Lobo...

In diesem Sinne und mit einem Gruß an Frau Berg,
Yoho, euer Pirat

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